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Essen: eine nachhaltige Erfahrung. Überlegungen zur Kombination von Altem und Neuem für lokal angepasste Konsum- und Produktionsformen

Warum gelingt die gesellschaftliche Transformation hin zu einem nachhaltigen und damit gesunden Lebensstil (noch) nicht? An wissensbasierten Empfehlungen mangelt es nicht, Personen setzen diese jedoch nur teilweise um. Zwar sind umfassende, evidenzbasierte Veränderungen zweifelsohne nötig, dabei darf allerdings von Seiten der Wissenschaft und Politik nicht außer Acht gelassen werden, dass es stets ein Mensch ist, der handelt – sie also umsetzt oder auch nicht. Und dieser Mensch hat eine individuelle Lebensgeschichte, wurde von Mitmenschen, orts- und zeitbezogenen Erfahrungen geprägt. In Abgleich mit der Umwelt werden im Laufe der Zeit nicht nur Wissen, Können und Gewohnheiten, auch Werte und Überzeugungen angeeignet. Dieses Fundament bietet für Handlungen in alltäglichen Situationen eine Orientierung. Selbst wenn Empfehlungen wissenschaftlich belegt sind, können sie gerade bei großer Diskrepanz zu dieser Basis nicht ohne weiteres übernommen werden, denn dann würde, was offenbar jahrelang für eine Person und – in zumindest ähnlicher Form – für ihr Umfeld funktioniert hat, falsch erscheinen und es wäre eine Umorientierung nötig. Neben dem theoretischen Wissen über nachhaltige Lebensweisen müssen vor allem das Können und die Gewohnheiten die Umsetzung erlauben, oder aber die Überzeugung stark genug sein, um eine Veränderung durchzuführen.

Essen ist nicht nur eine lebensnotwendige, alltägliche Tätigkeit: Die Redewendung du bist was du isst verweist auf die identitätsstiftende Funktion, die der Ernährung zugeschrieben wird. Für Personen in finanziell guter Lage ist die Auswahl an Nahrungsmitteln schier unbegrenzt. Entscheidungen werden mitunter auf Basis von Wissen, Können, Gewohnheiten, Werten und Überzeugungen sowie individuellen Eigenschaften getroffen, was mit Identifikationen und Identität verknüpft ist. Die Fragen wie nehme ich mich wahr? und wie wäre ich gerne? werden durch Ernährung tiefgreifend beantwortet. Durch den Konsum wird das ausgewählte Essen unwiderruflich in den Körper aufgenommen.

Identitätsstiftung durch Ernährung erfolgt jedoch nicht losgelöst von Zeit und Raum. Mit dem Untertitel „We are where we eat“ heben Bell und Valentine (1997) die Relevanz von Räumen und Orten im Hinblick auf Ernährung und Identitätsstiftung heraus, im Vorwort schreiben sie: „We all think place (and) identity through food“. Wie der Sammelband aufzeigt, spielen unterschiedliche Skalen, vom Körper angefangen, über „home“, Gemeinschaft, Stadt, Region, bis hin zur Nation und zur globalen Ebene, eine Rolle. Aus anthropologischer Perspektive erklärt Wilson (2006, S.12), dass Essen und Trinken zur Kreation und Reproduktion von lokalen, regionalen und nationalen Kulturen und Identitäten beitragen. Auch Lupton (1994, S.680) erkennt Markierungen von Differenzen zwischen Kulturen mittels Essen, wobei das Selbst vom Anderen unterschieden sowie die Identität gestärkt werden. Für die Definition des Selbst und des Anderen ist die spezifische Position bzw. die Verortung der Person ausschlaggebend. In Gesprächen über Ernährung kann erhoben werden, welche Zeiten, Orte, Menschen bzw. Erfahrungen relevant sind, welche Bedeutungen ihnen zugesprochen werden, wie sich Personen mit ihnen in Beziehung setzen und sich dadurch selbst positionieren.

Eine aktive Entscheidung für oder gegen eine Speise setzt voraus, dass man das zur Wahl stehende kennt. Wie Fischler (1988) allerdings erörtert, ist dies nicht immer der Fall: Ein steigender Anteil der Bevölkerung wisse nicht, wie und wo ihr Essen hergestellt wurde. In der industriellen Erzeugung würden Konsistenz, Geschmack und Geruch zudem nicht immer identifizierbar sein, da Lebensmittel imitiert und transformiert werden würden.

Bis in die 1950er Jahre war besonders in den ländlichen Gebirgstälern Österreichs ein Großteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig. Wirtschaftsformen mussten an die Bedingungen angepasst werden. Obgleich die Viehhaltung dort dominierte, wurden nicht nur Milchprodukte, sondern auch Fleisch sparsam verwendet. Man kultivierte zudem Getreide und in gewissem Ausmaß Gemüse und Obst, sammelte Beeren, Pilze und Heilpflanzen. Durch die Globalisierung der Produktion und des Konsums haben sich nicht nur landwirtschaftliche Praktiken verändert, sondern damit verbunden auch Erfahrungen, Wissensbestände und Werte. Fontefrancesco und Pieroni (2020, S.15-16) identifizierten in ihrer Studie zum Wissen über Kräuter im Sangonetal (Piemont, IT) Veränderungen: Parallel zur Abnahme landwirtschaftlicher Tätigkeiten sank die Nutzung von Pflanzen, die auf Weiden, in Wäldern und hohen Berggebieten wachsen. Demgegenüber brachten neu Zugezogene Kenntnisse mit, der Austausch in der Gemeinschaft und mit Expert*innen, Bildung und Massenmedien sind weitere Faktoren, welche das Wissen überformten. Das Sammeln von in anthropogen geprägter Umwelt kultivierten medizinischen Pflanzen fand Einzug.

Die großen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft im Visier lohnt ein Blick in die Vergangenheit, um ausgewähltes Wissen sowie Können und Praktiken zu bewahren oder zu reaktivieren. Kleinstrukturierte, an örtliche Bedingungen angepasste Landwirtschaft kann nicht nur zur Artenvielfalt beitragen sowie Risiken von Naturgefahren entgegensteuern, die lokale Produktion von Nahrungsmitteln setzt überdies einen Impuls für regionale Wertschöpfungsketten und minimiert dadurch Transportwege. Folglich können Produkte, deren Herkunft sowie Erzeugung zumindest in Teilen sichtbar und bekannt ist, erworben und konsumiert werden. Landwirtschaft lässt sich zudem mit weiteren Branchen kombinieren, wie mit sanftem Tourismus, was unterschiedliche Arbeitsplätze schafft und damit das Risiko einer Bevölkerungsabnahme reduziert. Zu allererst sollte sich die Lokalbevölkerung des hohen Wertes der natürlichen Ressourcen und des Wissens und Könnens rund um nachhaltige Nutzungsformen (wieder) bewusst werden, um es dann auch weitergeben zu können. Eine kritische Auseinandersetzung mit vergangenen und gegenwärtigen Gegebenheiten sowie eine Offenheit gegenüber lokal neuen Ansätzen hätten das Potenzial, die lokale Anpassung an sich wandelnde Faktoren zu optimieren. Wissenschaftler*innen und Politiker*innen können dabei ihrer Verantwortung gerecht werden, indem sie initiierende und begleitende Funktionen bekleiden. Letztendlich entscheidet es sich vor Ort, ob Ansässige und regionale Stakeholder nachhaltige Lebensformen annehmen oder auch nicht.

Der mangelhaften Umsetzung von Empfehlungen setzt Lupton (1994) eine Studie zur Relevanz von (nahrungsbezogenen) Erfahrungen entgegen. Ereignisse, Orte und Personen würden vor allem in Verbindung mit starken Gefühlen oder Emotionen im Gedächtnis bleiben und die Übernahme von Vorschlägen vereiteln. Einerseits lösten Geschmack, Geruch und Konsistenz mehr oder weniger erfreuliche Erinnerungen aus, andererseits basierten Vorlieben und Entscheidungen auf Erfahrungen (Lupton 1994, S.668-669).

Soll eine Transformation oder eine auf lokale, gegenwärtige und zukünftige Bedingungen abgestimmte Rückkehr zu Altem in Kombination mit Neuem erzielt werden, so kann dies durch positive Erfahrungen angestoßen werden. Das Erleben von lokaler Lebensmittelproduktion, die Verarbeitung und insbesondere das Konsumieren stünden dabei im Vordergrund. Dies könnte die Werte und Überzeugungen zur Entscheidung für ein nachhaltiges und gesundes Essen sowie das nötige Wissen und Können für die Zubereitung von Speisen befördern. Stellt eine einzige Person ihre Gewohnheiten um, ist dies ein Unterscheidungsmerkmal von den Gruppen, denen sie angehört, sodass das Weiterbestehen ihrer Zugehörigkeit ungewiss ist. Wird der Wandel hingegen mehrheitlich durchgeführt, gefährdet die Verweigerung die Zugehörigkeit. Da Erfahrungen zur Lebensmittelproduktion und –zubereitung sowie des Konsums häufig gemeinschaftlich gemacht werden, erscheint ein Wandel realistisch. Die (veränderte) Nachfrage bestimmt wiederum darüber mit, was produziert wird.

Jedes Handeln geht von einem Individuum aus, das über spezifische Verbindungen zu unterschiedlichen Menschen, Orten und Zeiten verfügt, worauf sein Wissen und Können, seine Einstellungen und Überzeugungen basieren. Zu Unbekanntem kann keine Beziehung hergestellt werden, und fehlt die Kenntnis über einen Sachverhalt, kann er nicht berücksichtigt werden. Das gemeinschaftliche, multisensorische Miterleben des Prozesses von der Kultivierung bis zum Verspeisen von Nahrung stärkt nicht nur das nötige Bewusstsein, Wissen und Können für eine nachhaltige Essenszubereitung, sondern schafft zudem wirkungsvolle Verbindungen: Ist das Erlebte mit positiven Assoziationen verknüpft, werden diese gerne regelmäßig reaktiviert. Das gezielte Initiieren von ernährungsbezogenen Erfahrungen ist folglich ein einfaches und naheliegendes Instrument zur Förderung nachhaltiger Konsumformen, welches zugleich die lokale Produktion unterstützt.

Literatur:

Bell, D. & Valentine, G. (1997). Consuming Geographies. We Are Where We Eat. London, New York: Routledge.

Fischler, C. (1988). Food, Self and Identity. Social Science Information 27, 275-193. http://www.researchgate.net/pu... [letzter Zugriff am 24.10.2022].

Fontefrancesco, M. F. & Pieroni, A. (2020). Renegotiating Situativity: Transformations of Local Herbal Knowledge in a Western Alpine Valley during the Past 40 Years. Journal of Ethnobiology and Ethnomedicine 16(58). https://ethnobiomed.biomedcent... [letzter Zugriff am 25.10.2022].

Lupton, D. (1994). Food, Memory and Meaning: The Symbolic and Social Nature of Food Events. The Sociological Review 42(4), 664-685.

Wilson, T. M. (2006). Introduction. Food, Drink and Identity in Europe: Consumption and the Construction of Local, National and Cosmopolitan Culture. In Wilson, T. M., eds., European Studies 22 (S.11-29). Amsterdam, New York: Rodopi B.V.