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Gesunde Ernährung im 21. Jahrhundert: ein Wechselspiel von Individuum und Gesellschaft

Wir befinden uns in einer ernsthaften Gesundheitskrise. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von einer Epidemie der nicht übertragbaren Krankheiten1. Tatsächlich sind nicht übertragbare Krankheiten (eng. noncommunicable diseases; NCDs) verantwortlich für insgesamt 74% der weltweiten Todesfälle: jedes Jahr sterben so 41 Millionen Personen an einer NCD2. Herzkreislauferkrankungen sind für die meisten Todesfälle verantwortlich, gefolgt von Krebserkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen, und Diabetes1.

Über die Risikofaktoren von NCDs ist man sich einig: Tabak- und Alkoholmissbrauch sowie Bewegungsmangel und eine ungesunde Ernährung erhöhen das Risiko an einer NCD zu sterben1. Zudem können ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel in erhöhtem Blutdruck, erhöhtem Blutzucker, erhöhten Blutfetten und Fettleibigkeit resultieren. Diese Faktoren werden als metabolische Risikofaktoren bezeichnet und können wiederum zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen41.

Daher sind zur Prävention von NCDs neben der Reduzierung des Tabak- und Alkoholkonsums (siehe SDG 3 Target 3.5) ein aktiver Lebensstil und eine gesunde Ernährung essenziell3, 4, 5, 6. Ein ausführliches Review der Risikofaktoren für die gängigsten NCDs bestätigt dies: die stärksten Schutzfaktoren waren gesunde Ernährung und körperliche Aktivität. So führte die Einhaltung einer mediterranen Ernährung beispielsweise zu einer Risikoreduktion aller fünf NCDs um bis zu 36%7.

Nichtsdestotrotz sind laut dem aktuellen Ernährungsbericht 41% der österreichischen Bevölkerung übergewichtig bzw. adipös8. Die International Diabetes Federation9 rechnet bis 2045 mit einem Anstieg der weltweiten Diabeteszahlen um 46% und die World Obesity Federation10 berichtet, dass die Prävalenz von Adipositas weltweit zunimmt. Der 2021 Global Nutrition Report11 zeigt starke Ernährungsdefizite auf, welche im letzten Jahrzehnt keine Verbesserung erfahren haben. So liegt beispielsweise die Aufnahme von Obst und Gemüse immer noch etwa 50 % unter der empfohlenen Menge von fünf Portionen pro Tag. Demgegenüber nimmt der der Konsum von zuckerhaltigen Getränken, von welchen stark abgeraten wird, stetig zu11.

Es herrscht größtenteils wissenschaftlicher Konsens darüber, wie eine gesunde Ernährung grob auszusehen hat4. Man kann davon ausgehen, dass in einkommensstärkeren Ländern zumeist ausreichend Ressourcen vorhanden sind, um sich für die empfohlene Ernährung zu entscheiden. Allerdings besteht offensichtlich eine extreme Diskrepanz zwischen aktuellem Wissensstand der Forschung und tatsächlichem Verhalten des Individuums.

Gleichzeitig häufen sich im Netz Ernährungs- und Diättipps. Der globale Markt für Produkte und Dienstleistungen zum Gewichtsverlust wurde 2021 auf über 250 Milliarden Doller geschätzt12. Empfehlungen reichen von „iss nicht zu viel zuckerhaltige Lebensmittel“13 zu „in Grapefruits steckt echte Fettkiller-Power“14. Dies suggeriert gesunde Ernährung sei eine persönliche Entscheidung und als logische Konsequenz sei das Individuum verantwortlich für seine Gesundheit bzw. - im Falle von Adipositas – chronische Krankheit. Crawfordt15 hat schon früh kritisiert, dass bei vielen Krankheiten das Risikoverhalten des Individuums als Ursache des Problems und ein Lebenswandel des Individuums als dessen Lösung angesehen wird.

Eine Person für ihr Essverhalten komplett selbst verantwortlich zu machen, setzt voraus, dass Menschen rein rational vorgehen und Entscheidungen treffen, deren Gründe sie explizit benennen können. Man ist sich jedoch mittlerweile bewusst, dass die Entscheidungsfindung bei der Auswahl von Lebensmitteln ein komplizierter Prozess ist: ein Zusammenspiel zwischen internen (z.B. interozeptive Hungersignale, Selbstkontrolle bei der Ernährung) und externen Faktoren (z.B. Essgewohnheiten der Familie, Lebensmittelmarketing)16, 17, 18, 19. Tatsächlich basiert das Essverhalten stark auf Gewohnheiten, da Menschen in Entscheidungsprozessen bestrebt sind die aufgewendeten kognitiven Ressourcen zu minimieren16, 20. Zur Entwicklung von wirksamen Maßnahmen und Präventionsprogrammen müssen wir die Entstehung von gesundheitsgefährdenden Mustern in Ernährungsentscheidungen verstehen und dort ansetzen.

Grundsätzlich veranlasst das physiologische Bedürfnis nach Nahrung den Menschen zum Essen. Evolutionär betrachtet wird dadurch sichergestellt, dass Energie aufgenommen wird, sobald diese verfügbar ist und damit für Zeiten der Nahrungsknappheit gespeichert werden kann21. Allerdings ist Nahrung in modernen Gesellschaften durch Verfügbarkeit, Erschwinglichkeit, Geschmack, und erfolgreiche Vermarktung gekennzeichnet19. Oder, wie Klotter und Endres es formulieren, wir leben im „Schlaraffenland“ (S. 1)22. Dies wird insofern zum Problem, da die belohnenden Eigenschaften von Lebensmitteln grundlegende Sättigungssignale außer Kraft setzen können. Leng et al.19 erklären, dass es bei der Aufnahme bestimmter Nahrungsmittel zum plötzlichen Dopaminanstieg im Belohnungssystem des Gehirns kommt. Dieser Prozess, welcher eine stark verstärkende Wirkung hat, ist schmackhaften Lebensmitteln und Drogen gemein21.

Zur Reduktion der aufgewendeten kognitiven Ressourcen in Entscheidungssituationen greifen Menschen außerdem auf eine Reihe von Heuristiken zurück. Für Konsument:innen ist es oft schwierig, alle vorhandenen Informationen zu verarbeiten, um die Gesundheit von Lebensmitteln zu bewerten. Daher verlassen sie sich stark auf sensorische Reize (z.B. die Assoziation blau/grün = gesund in Bezug auf die Verpackungsfarbe) oder auf ihre Intuition23. Hier unterlaufen ihnen jedoch meist eine Reihe systematischer Fehler. Beispielsweise ist bekannt, dass Bezeichnungen wie "Bio" oder "cholesterin- und fettarm" einen starken Halo-Effekt mit sich bringen16, 24, wodurch Konsument:innen glauben, diese Lebensmittel seien gesundheitsfördernder 24, 25. Eine weitere Fehlannahme ist, dass teure Lebensmittel automatisch gesünder sind 23, 26. Bei unserem alltäglichen Konsum sind wir demnach alles andere als rationale Akteure. Wir nutzen nicht nur evidenzbasierte Informationen, sondern werden von einem breiteren Informationsumfeld beeinflusst, das von kulturellen Faktoren, Werbung und anderen Medien geprägt ist.

Besonders Kinder sind anfällig für die negativen Auswirkungen der Lebensmittelwerbung, welche dafür bekannt ist hedonistische, geschmacksorientierte und ungesunde Lebensmittelentscheidungen zu fördern17. Allerdings ist es essenziell, dass Kinder lernen gesunde Essentscheidungen zu treffen, denn einmal etablierte Ernährungsgewohnheiten sind in der Regel stabil. Verschiedene Studien (für ein Review siehe Nicklaus & Remy, 201327) haben gezeigt, dass früh entwickelte Lebensmittelpräferenzen einen langanhaltenden Einfluss haben. Dieser Effekt zeigt sich beispielsweise bei Neugeborenen: sind sie bereits früh einer Bandbreite von Gemüsesorten ausgesetzt, erhöht sich die spätere Aufnahme von und Vorliebe für Gemüsen28. Viele Lernprozesse in Bezug auf Lebensmittelpräferenzen, so Köster18, finden unbewusst statt. Vor Allem in jungen Jahren werden Kinder stark beeinflusst von Lob und Anerkennung der Eltern. Etwas später wird das Essverhalten von Jugendlichen durch Imitationslernen ihres Umfelds geprägt18. Hier haben die Eltern bzw. das familiäre Umfeld eine besonders einflussreiche Vorbildfunktion 16, 29. Laut Köster18 sind genau diese in der Kindheit erlernten, nicht bewussten Essgewohnheiten besonders resistent gegenüber Veränderung, weshalb es sinnvoll ist, bereits früh in Programme für gesunde Ernährung zu investieren. Die Familie ist allerdings nicht nur als soziales Lernumfeld relevant. Aufgrund von Zwillingsstudien wird geschätzt, dass der BMI zu etwa 77 % vererbbar ist30. Die kognitive Komponente der Entscheidungsfindung kommt dann vor allem im Erwachsenenalter hinzu18. Das Familiensystem bzw. das soziale Umfeld spielt also eine aktive Rolle bei der Entwicklung und Förderung von Verhaltensweisen, welche die Essgewohnheiten einer Person dauerhaft prägen werden.

Die oben genannten Faktoren sollen einen ungefähren Eindruck von der Komplexität und Vielschichtigkeit der Essgewohnheiten vermitteln. Selbstverständlich spielen auch noch viele weitere Komponenten eine essenzielle Rolle in diesem Prozess (z.B. sozioökonomischer Status19, 29).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass gesunde Ernährung keine rein individuelle Herausforderung ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche. Ein interdisziplinäres Reviewn31 zeigt, dass die meisten Forschungsarbeiten biologische, psychologische und produktbezogene Prädiktoren betonen, während politische Einflüsse auf die Lebensmittelauswahl kaum berücksichtigt werden. Allerdings reicht es nicht, Verbraucher:innen dazu aufzurufen, bewusster mit ihren Essensentscheidungen umzugehen und zur gesunden Ernährung zu ermutigen. So sind beispielsweise laut Leng et al.19 an Einzelpersonen gerichtete Schuld- und Schamstrategien, welche die der Adipositas zugrundeliegende Pathologie leugnen, unwirksam bzw. möglicherweise sogar kontraproduktiv. Es gilt diejenigen Faktoren, die ein adipogenes Umfeld fördern, zu ermitteln und zu beheben. Gleichzeitig muss ein Umfeld geschaffen werden, in welchem es leichtfällt, gesunde Entscheidungen zu treffen.

Literatur:

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